Titel
Ein Lehrer und tausend Schüler. Joseph Hamels Dokumentation über den "gegenseitigen Unterricht" (Paris 1818)


Autor(en)
Stratenwerth, Wolfgang
Erschienen
Bergisch Gladbach 2014: Verlag Thomas Hobein
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Barbara Caluori, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht der Neudruck der deutschen Version des 1818 von Joseph Hamel verfassten Werkes „Der gegenseitige Unterricht; Geschichte seiner Einführung und Ausbreitung durch Dr. A. Bell, J. Lancaster und andere“ sowie dessen Kontextualisierung mittels der Biographie Hamels und der Einordnung des Werkes in die russische und deutsche Lancasterbewegung. Hamel verfasste das Buch auf Anordnung des russischen Zaren Alexander I., der sich für die englische Lehrmethode und deren Einsatzmöglichkeiten in seinem Land interessierte. Das Werk wurde dann auch in russischer und französischer Sprache veröffentlicht.

Mit der Fokussierung auf Hamels Werk bearbeitet Stratenwerth einen spezifischen Ausschnitt aus der Geschichte des Bell-Lancaster-Systems bzw. der Bell-Lancaster-Methode. Zur Geschichte der Verbreitung, Rezeption und Transformation dieses Unterrichtsmodells auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene existiert bereits eine breite Forschungsliteratur, wobei in jüngster Zeit vor allem im Umfeld eines Projektes von Marcelo Caruso und Jürgen Schriewer an der Humboldt-Unversität zu Berlin nennenswerte Arbeiten entstanden sind.1

Die vom anglikanischen Geistlichen Andrew Bell (1753–1832) und dem Quäker Joseph Lancaster (1778–1838) zu Beginn des 19. Jahrhunderts unabhängig voneinander entwickelte Form der Unterrichtsorganisation breitete sich vom Mutterland England weltweit aus. Sie wurde unter anderem auch bekannt unter den Begriffen „gegenseitiger“ oder „wechselseitiger Unterricht“, „Monitorial System“ oder „enseignement mutuel“ (S. 16f.). Im Kontext des von der historischen Bildungsforschung als „educationalization of social problems“ oder „educationalization of the world“2 behandelten Phänomens, wurde das Bell-Lancaster-System in den zeitgenössischen Debatten über (Volks-)Schulreformen als verheißungsvoller Lösungsansatz für die Beschulung der Volksmassen, vor allem derjenigen der unteren sozialen Schichten gehandelt. Trotz zwischenzeitlich großem internationalen Ruhm und Probeversuchen in diversen Ländern konnte sich das Bell-Lancaster-System jedoch im organisierten Volksunterricht nicht durchsetzen.

Stratenwerths Entschluss, einen Neudruck des Hamelschen Werkes zu veröffentlichen, basiert auf drei Beweggründen. Erstens möchte er in der Bell-Lancaster-Forschung die Ebene der Schulpraxis stärker ins Licht rücken und die curricularen Sachverhalte, die didaktisch-methodischen Aspekte und die institutionell-organisatorische Struktur dieser Methode fokussieren (S. 5f.). Einen solchen Zugang vermisst er in den meisten anderen Arbeiten über das Bell-Lancaster-System, da sich diese in erster Linie unter anderem mit Fragen nach gesellschaftlichen Aspekten, Diffusions- und Rezeptionsprozessen auseinandersetzen. Stratenwerths Anliegen entspringt unverkennbar seinem professionellen Hintergrund, ist er doch emeritierter Professor für Berufs- und Wirtschaftspädagogik und lehrte die Geschichte der Didaktik sowie unterrichtstechnologische Didaktikmodelle. Leider bleibt der Ertrag der wissenschaftlichen Erkenntnis genau in diesem Bereich eher marginal. Dies ist sicherlich ein Resultat des gewählten Vorgehens. Es gibt keine leitende Forschungsfrage oder Arbeitshypothese, wodurch die eigentlichen Ziele der Arbeit unklar bleiben oder verloren gehen. Der zweite Beweggrund für die Herausgabe des Neudrucks des Hamelschen Werkes ist Stratenwerths Einschätzung, dass keine andere Quelle so vollständig und systematisch die Lehr- und Lernabläufe beider Systeme, des Bellschen wie des Lancasterschen, bis ins Detail wiedergibt (S. 5f.). Davon kann man sich mittels der Lektüre des zweiten Teiles des Buches selber überzeugen. Drittens möchte Stratenwerth den Zugang zu dieser zweifelsohne bedeutenden Quelle in der Geschichte des Bell-Lancaster-Systems erleichtern, da sie heute nur noch in wenigen Bibliotheken vorhanden sei und zu den antiquarischen Raritäten gehöre (S. 6). Von den Leserinnen und die Lesern, die gerne ein gebundenes Buch zur Hand haben, wird Stratenwerths Intention sicherlich sehr geschätzt. Allerdings ist der Zugang zu Hamels Werk im Zeitalter der Digitalisierung um einiges einfacher geworden. So findet man online einen von der Bayerischen Staatsbibliothek digitalisierten Volltext.3 Wer jedoch letzteren Zugang wählt, kann nicht vom Mehrwert profitieren, den Stratenwerths Buch bietet. Dieser liegt in der allgemeinen Einführung in das Bell-Lancaster-System und der Einordnung der Hamelschen Quelle in einen grösseren Entstehungskontext. Außerdem findet man hier viele dienliche und aufwändig zusammengetragene Informationen, etwa zahlreiche Illustrationen, eine Liste aller Veröffentlichungen von Hamel (S. 292–298), eine Liste seiner Mitgliedschaften in Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften (S. 299) und ein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis zum Untersuchungsgegenstand des gegenseitigen Unterrichts. Leider haben sich beim Bibliographieren einige Ungenauigkeiten eingeschlichen, die ein rasches Finden der verwendeten Literatur nicht immer erlauben.

Stratenwerths Buch besteht aus fünf Teilen, von denen der zweite den Neudruck des historischen Textes bildet und den seitenmäßig größten Abschnitt des Buches darstellt. Die anderen vier Blöcke dienen der Rahmung und weiteren Einordnung dieser Quelle. Im ersten Teil gibt Stratenwerth eine prägnante, hilfreiche Einführung in das Bell-Lancaster-System, indem er die Grundprinzipien und strukturellen Merkmale darlegt, unter anderem das auch namensgebende Konzept der Monitoren, welches fortgeschrittene Schüler als eine Art Hilfslehrer vorsieht (S. 14). Weiter werden Terminologien erklärt, die ideellen Hintergründe dargelegt und der Verlauf der Bell-Lancaster-Bewegung in England skizziert. Dabei wird die bedeutende Rolle ersichtlich, die in der Zeit vor der Verstaatlichung des Elementarschulwesens Sozietäten zukam. Die „National Society for promoting the Education of the Poor in Principles of the Established Church“ als Unterstützerin von Bell und ihre Kontrahentin, die überkonfessionelle „British and Foreign School Society“ (BFSS) waren entscheidende Akteure im Prozess der Etablierung einer Erziehung für die ärmeren Volksschichten bzw. der Verbreitung des „monitorial systems“ (S. 22–32).

Der dritte Teil enthält eine sehr detaillierte Biographie Josef Hamels (1788–1862). Sie wurde mittels aufwändiger Recherchen und zahlreicher Quellen rekonstruiert und zeigt das Bild einer vielseitig interessierten, viel gereisten und begabten Person aus der ersten Generation deutscher Einwanderer in Russland, die im russischen Staatsdienst stand (S. 219–291). Es ist beeindruckend, in wie vielen Bereichen Hamel tätig war. Dennoch wäre es für die Stringenz der Argumentation wie auch für den Zusammenhang des Buchthemas von Vorteil gewesen, Stratenwerth hätte nicht „auch solche Sachverhalte aufgenommen [...], die das zur Werkinterpretation notwendige Mass überschreiten“ (S. 8) und sich auf die Daten beschränkt, die mit der Hauptquelle im weitesten Sinne zu tun haben. Aufgrund der enormen Fülle von Informationen, wie jener, dass Hamel sich für optisch-physikalische Untersuchungen interessierte (S. 227) oder das Skiadansche Wollmessgerät überprüfte (S. 238), geht der Fokus auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand phasenweise verloren.

Im vierten Kapitel, in dem die russische Lancasterschulbewegung von ihrem Aufkommen bis zu ihrem Ende nachgezeichnet wird, macht Stratenwerth deutlich, wo er Hamel darin einordnet. Zusammen mit diversen Treffen des Zaren mit Quäkern 1814 in London und der Gründung von Lancasterschulen für Soldaten der russischen Besatzungsarmee in Frankreich 1815 und 1816 bezeichnet er Joseph Hamel mit seinen Gutachten über das Bell-Lancaster-System von 1813 und 1816 als einen der „historische[n] Ausgangspunkte einer in Russland entstehenden Lancasterschulbewegung“ (S. 313). In der Folge arbeitet Stratenwerth die strategischen Ansätze und Ergebnisse des weiteren Verlaufes systematisch heraus und benennt die beteiligten Akteure, ihre Rolle im Prozess und die von ihnen verfolgten Absichten. Ähnlich wie in anderen Ländern waren auch in der russischen Lancasterbewegung ein starker Bezug zur Armenerziehung, die Nähe zu philanthropischem bzw. religiösem Gedankengut, die Verbindung zum Militär und Militärschulen, aber auch staatsbürgerliche Absichten mitgestaltende Elemente (S. 321ff.).

Abschließend geht Stratenwerth auf die Rezeptions- und Implementationsversuche des gegenseitigen Unterrichts in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Sie steht im Gegensatz zum Beispiel Russland für eine mit weniger Enthusiasmus gekrönte Aufnahme des Bell-Lancaster-Systems. Hier wird deutlich, dass die englische Unterrichtsform nicht konkurrenzlos dastand, sondern als eine mögliche Form des Unterrichtens auf einem sich etablierenden Markt pädagogischer Methoden gehandelt wurde. In Deutschland wurde mehr das Konkurrenzprodukt, nämlich die Elementarmethode Pestalozzis, bevorzugt und die als zu mechanisch kritisierte Bell-Lancaster-Methode kam höchstens in einer modifizierten Form zur Anwendung (S. 391, 393, 396), um den „ Prinzipien der deutschen Pädagogik“ (S. 401) gerecht zu werden.

Wünschenswert wäre gewesen, Stratenwerth hätte sein profundes Wissen mehr zur Verknüpfung der einzelnen Teile – der Einführung ins Bell-Lancaster-System, dem Werk Hamels, der Biographie Hamels, der russischen Lancasterbewegung und der Rezeption und Implementation des englischen Systems in Deutschland – eingesetzt. Zusammenfassend kann über das vorliegende Buch gesagt werden, dass sein Wert in der Neuauflage des Hamelschen Werkes über den gegenseitigen Unterricht und der sehr ausführlichen Biographie liegt, wie sie bis anhin nicht greifbar war.

Anmerkungen:
1 U.a. Marcelo Caruso, Geist oder Mechanik. Unterrichtsordnungen als kulturelle Konstruktionen in Preussen, Dänemark (Schleswig-Holstein) und Spanien 1800–1870, Frankfurt am Main 2010, und Patrick Ressler, Nonprofit-Marketing im Schulbereich. Britische Schulgesellschaften und der Erfolg des Bell-Lancaster-Systems der Unterrichtsorganisation im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010.
2 vgl. Paul Smeyers / Marc Depaepe (Hrsg.), Educational Research: The Educationalization of Social Problems, Dordrecht 2008, und Daniel Tröhler, Pestalozzi and the educationalization of the world, New York 2013.
3 <http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10763002_00001.html> (26.08.2015).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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